Über FQAD
FQAD: Begriff und Diagnostik
Fluoroquinolone-Associated Disability – auch FQAD genannt – ist der amerikanische Diagnoseschlüssel für schwere, langanhaltende bis hin zu irreversiblen Nebenwirkungen, verursacht durch Fluorchinolon-Antibiotika. Die Diagnosekriterien der FDA (1) sind wie folgt:
- Substanzielle Einschränkung, normale Lebensfunktionen auszuüben.
- Zwei oder mehr der folgenden Systeme sind betroffen:
- Muskuloskelettales System
- Peripheres Nervensystem
- Haut
- Kardiovaskuläres System
- Sinnesorgane
- Neuropsychiatrisch
- Die Nebenwirkungen bestehen für mehr als 30 Tage nach Absetzen der Medikation weiter.
In Europa gibt es leider noch keinen Diagnoseschlüssel für FQAD. Dies ist eines der Anliegen, welcher der Verein zur Aufklärung über die Nebenwirkungen von Fluorchinolon Antibiotika (VFCN) in seine Mission und Ziele (2) integriert hat.
Im Jahr 2019 fand in Europa eine öffentliche Anhörung der EMA bezüglich der Fluorchinolone statt, mit dem Beschluss eines weiteren Warnschreibens an die Ärzte (sogenannter Rote-Hand-Brief) sowie weiterer Indikationsbeschränkungen. (3) Hier ein kleiner Ausschnitt:
08.04.2019 Systemisch und inhalativ angewendete Chinolon- und Fluorchinolone-Antibiotika: Risiko von die Lebensqualität beeinträchtigenden, lang anhaltenden und möglicherweise irreversiblen Nebenwirkungen – Anwendungsbeschränkungen
Die Lebensqualität beeinträchtigende, langanhaltende und möglicherweise irreversible Nebenwirkungen wurden im Zusammenhang mit chinolon- und fluorchinolonhaltigen Antibiotika berichtet. Sie betreffen hauptsächlich den Bewegungsapparat und das Nervensystem.
Pathomechanismus und Symptome
Unterdessen gibt es immer mehr Literatur betreffend Pathomechanismus sowie potentieller Therapieoptionen bei dieser Erkrankung. Das 2020 erschienene Essential „Fluoroquinolone-Associated Disability FQAD: Pathogenese, Diagnostik, Therapie und Diagnosekriterien“(4) von Dr. med. Stefan Pieper – dem einzigen „Spezialisten“ zum Thema FQAD im deutschsprachigen Raum, mit Erfahrung von mehr als 300 behandelten Patienten – liefert einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand.
Gemäss Dr. med. Stefan Pieper betrifft die FQAD die folgenden vier Körpersysteme, welche je nach Patient unterschiedlich ausgeprägt sein können:
- Mitochondriale Dysfunktion durch vermehrten oxidativen Stress sowie Hemmung der Topoisomerase II.
- Kollagenschäden durch Hochregulation diverser Matrix-Metalloproteinasen (v.a. MMP-2)
- Schädigung des peripheren Nervensystems durch oxidativen Stress, mitochondriale Dysfunktion oder direkte neurotoxische Wirkung.
- Neuropsychiatrische Nebenwirkungen durch die Fluorchinolon-bedingte Hemmung des GABAergen Systems sowie Aktivierung der NMDA-Rezeptoren.



Daraus ergibt sich ein breit gefächertes Krankheitsbild mit vielen möglichen Symptomen, darunter u.a. folgende:
- Chronic Fatigue Syndrom
- Tendinopathie, Sehnenruptur
- Aortenaneurysma
- Parästhesie, Dysästhesie
- Muskelschwäche, Myalgien, Faszikulationen
- Arthralgie
- Schlafstörungen, Depersonalisation bis hin zu Suizidalität
Potenzielle Therapieoptionen
Ebenfalls sei hier das hervorragend geschriebene Paper von Krzysztof Michalak, PhD „Behandlung der FQAD: Pathobiochemische Implikationen“ (5) erwähnt. Darin postuliert Krzysztof Michalak, PhD folgende potentielle Therapieoptionen:
- Reduktion des oxidativen Stresses.
- Wiederherstellung des reduzierten mitochondrialen Potentials.
- Supplementation ein- und zweiwertiger Kationen, welche durch Fluorchinolone chelatiert und wahrscheinlich ineffektiv zur Zelle transportiert werden.
- Stimulation der mitochondrialen Proliferation.
- Entfernung von permanent angereicherten Fluorchinolonen aus der Zelle (falls dieses Phänomen stattfindet).
- Regulierung der gestörten Genexpression und Enzymaktivität.
Trotzdem betont Krzysztof Michalak PhD, dass die molekulare Aktivität von Fluorchinolon-Antibiotika in den Zellen in vielen Details weitestgehend unklar ist.
Ein weiterer Ansatzpunkt betreffend Therapie der FQAD liefert die durch Dr. med. Stefan Pieper beschriebene (4) sowie in diversen Studien berichtete antagonistische Wirkung der Fluorchinolone am GABA A Receptor, welcher besonders bei der gleichzeitigen Gabe mit einem NSAR als verstärkt beschrieben wurde (6).
Aus der bisherigen Erfahrung in der FQAD-Beratung wurde ersichtlich, dass Betroffene, welche von den behandelnden Ärzten mit hochpotenten, langwirksamen Benzodiazepine wie Clonazepam behandelt wurden, sich die Lebensqualität einschränkenden Nebenwirkungen (Schmerzen, Parästhesien, Dysästhesien, Schlafstörung in den ersten Wochen) stark reduzieren liessen. Dies wurde jedoch leider bisher nicht in einer Studie untersucht und beruht lediglich auf der Rückmeldung von über 100 Betroffenen. Benzodiazepine scheinen die Exzitotoxizität reduzieren zu können (7), welche hypothetisch durch den Antagonismus des Fluorchinolons am GABA A Receptor ausgelöst wird. Dadurch können sie theoretisch Symptome wie Schlafstörungen, aber auch die Nervenschmerzen abmildern. Eine weitere Möglichkeit erscheint ein Versuch durch die Hemmung der NMDA Aktivität, wie ebenfalls beschrieben durch Dr. med. Stefan Pieper (4), beispielsweise durch den NMDA-Antagonist Memantine (8), oder schwächer ausgeprägt durch den nicht-kompetitiven NMDA Antagonisten Magnesium (9), um die Exzitotoxizität zu reduzieren und damit Nebenwirkungen in diesem Bereich zu mildern. Dies beruht lediglich auf einer Beobachtung. Bitte sprechen Sie die hier präsentierte Information immer mit dem behandelnden Arzt ab!



Krankheitsverlauf
Zu den unterschiedlichen Krankheitsverläufen liefert die Seite des Vereins zur Aufklärung über die Nebenwirkungen von Fluorchinolone Antibiotika (VFCN) einen guten Überblick: (10)
Die Schwere und Dauer der Nebenwirkungen sind von Fall zu Fall unterschiedlich. So gibt es Betroffene mit schweren körperlichen Einschränkungen, die nach einer Zeit wieder vollständig genesen, während andere Betroffene mit anfänglich nur moderaten Nebenwirkungen einen progressiven Krankheitsverlauf erleben. Die Amerikanische Gesundheitsbehörde FDA geht auf Basis der gemeldeten Fälle von einer durchschnittlichen Dauer von 14 Monaten bei schweren Nebenwirkungen aus. Es wurden aber auch etliche Fälle von permanenten Schädigungen gemeldet. Eine gute Indikation über mögliche Entwicklungen liefert der Flox-Report. Darin werden mögliche mittelschwere bis schwere Verläufe anhand drei verschiedener Kurven abgebildet (siehe unten). Die Daten basieren auf der Beobachtung der Krankheitsverläufe von 49 Patienten. Von dieser Studie ausgeschlossen sind leichte und herkömmliche Nebenwirkungen, die in der Regel nach Absetzen des Medikamentes wieder verschwinden.
Dazu ist zu erwähnen, dass der oben genannte Report von Betroffenen selbst geschrieben wurde und wissenschaftlich nicht auf hohem Niveau anzusehen ist. (11) Zusätzlich ist er bereits 14 Jahre alt. Viele der Patienten wussten nichts von den oben erwähnten, potentiellen Therapiemöglichkeiten. Forschungsergebnisse zum Thema FQAD gab es noch keine, einen Diagnoseschlüssel in den USA ebenfalls nicht. Für die Untersuchung von mittelschweren sowie schweren Krankheitsverläufen sind also gut aufgestellte Studien notwendig.
Abschliessend ist zu sagen, dass trotz Fortschritten in der Forschung zum „jungen“ Krankheitsbild der FQAD noch viele Erkenntnisse notwendig sind, um die genaue Ursache sowie zielgerichtete Therapiemöglichkeiten zu etablieren. Auch die Frage, welche Subpopulation mit welchen individuellen Voraussetzungen (Genetik, Lebensstil, Mangel an Mineralstoffen, Vitaminen und Spurenelementen u.v.a.) an den schweren, zum Teil irreversiblen Nebenwirkungen erkrankt, ist ungeklärt.
Marco Karrer B.Med.
Aktualisiert 02.05.2022
Quellenangaben
Stefan Pieper, Fluoroquinolone-Associated Disability (FQAD) – Pathogenesis, Diagnostics, Therapy and Diagnostic Criteria (Seiten 43-60); 2021
M.A. Green, R.F. Halliwell Selective antagonism of the GABA A receptor by ciprofloxacin and biphenylacetic acid; 2009
GABA A Receptor Activation Attenuates Excitotoxicity but Exacerbates Oxygen-Glucose Deprivation-Induced Neuronal Injury In Vitro; 1996
Melinda K. Kutzing, Vincent Luo, Bonnie L. Firestein; Protection from glutamate-induced excitotoxicity by memantine
The International Journal of Neuropsychopharmacology; Bartłomiej Pochwat, Bernadeta Szewczyk, Magdalena Sowa-Kucma, Agata Siwek, Urszula Doboszewska, Wojciech Piekoszewski, Piotr Gruca, Mariusz Papp, Gabriel Nowak; Antidepressant-like activity of magnesium in the chronic mild stress model in rats: alterations in the NMDA receptor subunits; 2014